Bruno Bauer und Industriearchitektur in den böhmischen Ländern

Die Planung und Projektierung von Fabriken in den böhmischen Ländern war Teil der weltumspannenden Entwicklung ökonomischer und technischer Erkenntnisse und Erfahrungen. Spezialisierte Projektierungsbüros waren richtungsweisend und in der Lage, ein funktionierendes Betriebsschema, die dementsprechende Raumaufteilung und eine Konstruktion, die diese auf ökonomische Weise umsetzt, zu entwerfen und gleichzeitig auch den Ansprüchen an das Äußere des Werkes gerecht zu werden. Eine Schlüsselrolle spielt bei dieser Entwicklung die Textilindustrie, deren Ansprüche an Raumgröße und Aufteilung sowie an die Sicherheit, die ersten Bauten entstehen ließ, die man in dieser Hinsicht modern nennen kann.

Direkte Kontakte zur entwickelten britischen Projektierungspraxis von Baumwollspinnereien sind für den mitteleuropäischen Raum bisher nur wenig dokumentiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte diese vor allem das Schweizer Büro von Carl Arnold Séquin-Bronner (später Séquin & Knobel) hierher, später wirkte in den böhmischen Ländern allerdings auch das Leipziger Büro Händel & Franke. Bereits seit 1877 gab es auch einheimische Konkurrenz: das Büro des Baumeisters František Plesnivý in Náchod und später in Hradec Králové. Sein erstes Technisches Bureau für Brauereien gründete 1863 Gustav Noback in Prag und zwei Jahre später auch Josef Vincenc Novák. Kurz darauf begannen sie bereits, außer Projektierung und Kostenvoranschlag, auch die Maschinenausstattung aus dem eigenen Maschinenbaubetrieb anzubieten. Zuckerwerke wurden damals gemeinsam vom Maschinenbauer Čeňek Daňek und der Baugesellschaft Václav Nekvasil projektiert und ausgestattet. Der erste einheimische Baumeister, der auf der Grundlage eigener Projekte ausschließlich Industriebauten ausführte, war anscheinend Josef Rosenberg (seit 1873) aus Iglau, insbesondere spezialisiert auf gekühlte Wirtschaftsgebäude für Brauereien. Einen umfassenden Erfolg in diesem Fach erzielte vor allem die 1887 in Prag gegründete Bau- und Projektierungsfirma Viktor Beneš. Anfang des Jahrhunderts wurde die Projektierung dann weitestgehend von Baufirmen übernommen, die sich auf Stahlbeton spezialisierten. Die Projektierungsabteilung der Wiener „concessionaire Hennebique“ von Eduard Ast wurde von seinem Schwager Hugo Gröger geführt. Dieser publizierte eine Serie von Industriebauten, wobei deren Stahlbetonskelett seit mindestens 1902 an der Fassade sichtbar war. Etwas später begannen eine weitere Wiener Firma, Pittel & Brausewetter, und auch die Brünner Firma B. Fischmann & Co. mit der Projektierung und Bauausführung. Ein großer Teil der hiesigen Fabriken ging jedoch aus der Zusammenarbeit von Ingenieuren aus Baufirmen (Skorkovský, Müller & Kapsa) mit Maschinenbauingenieuren für die Bereitstellung der Ausstattung, mit auf den Betriebsablauf spezialisierten Fachleute-Auftraggebern und unter Umständen auch mit Architekten hervor. Die erste Generation von Architekten, die sich an der Planung von Industrie-Bauten wiederholt beteiligte, studierte an der Technischen Hochschule in Wien bei Karl König – Praxis und Lehrtätigkeit betreffend, gehörten Leopold Simony und Heinrich Fanta zu den Erfolgreichsten. Danach bekannten sich auch die Schüler von Wagner an der Akadamie 1908 zu diesem Thema, von denen jedoch nur Hubert Gessner mit seinem Bruder Franz und vor allem Bohumil Hypšman zu einer wirklich komplexen Entwurfsarbeit von Industriebauten kamen. In den Böhmischen Ländern waren zugleich Dependancen tätig, die eine komplette Projektierung von Bauten verschiedener Industriezweige offerierten. Neben einigen Projekten des Stuttgarter Büros Phillip Jakob Manz ist hier die Arbeit von Heinrich Zieger, der zuerst in Zittau in der Lausitz seinen Sitz hatte, und auch die Arbeiten des Frankfurter Büros C. T. Steinert, die sich ausschließlich auf Bauten für die Leder verarbeitende Industrie spezialisierte, hervorzuheben.

Das erfolgreichste hiesige Büro wurde 1908 von Bruno Bauer (1880–1980) gegründet. Bereits 1911 siedelte es dann nach Wien um, wo sich damals die zweite Generation österreichisch-ungarischer Fabrikanten, mit Betrieben in der Hauptstadt und in weiteren Industriezentren der Monarchie, traf. Die Bedeutung von Bruno Bauer und seine Bauten in Wien und Niederösterreich entgingen auch nicht der kunsthistorischen (Renate Wagner-Rieger), der topografischen (Ute Georgeacopol-Winischhofer) und der biografischen (Inge Schiedl) Literatur. Der größte Teil seiner Arbeit befindet sich jedoch in den Böhmischen Ländern. Das Archiv des Projektierungsbüros Bauer ist aber mit größter Wahrscheinlichkeit nicht erhalten geblieben, die Dokumentationen der einzelnen Bauten sind über die betreffenden Bau- und Betriebsarchive verstreut. Viele wurden in österreichischen und deutschen Ingenieur-Zeitschriften publiziert und fanden ihren Weg in technische Hand- und Lehrbücher. Er selbst hat erwähnt, dass er bis 1930 an mehr als 380 Projekten gearbeitet hat. Bisher wurden jedoch nur 75 seiner Bauten und Industrieareale zuverlässig identifiziert, von denen 14 bereits nicht mehr existieren.

Bauer verwendete die Skelettbauweise bei einer ganzen Reihe von Gebäudetypen: originell entworfenen Hochbauten entwarf er für die Woll-Fabriken in Brünn, im schlesischen Jägerndorf sowie im nordböhmischen Kralice, Shedbauten wiederum für die Textilwerke in Brněnec oder auch die Vorhangweberei in Sankt Pölten, Hallenrahmkonstruktionen für die Maschinenwerke im nordböhmischen Tannwald oder dem steirischen Weiz. Für das österreichisch-ungarische Kriegs-Ministerium projektierte Bauer in den Jahren 1915-1916 eine Serie von strategisch wichtigen Betrieben, die stickstoffhaltige Stoffe für die Munitionsherstellung (Kunstsalpeterfabriken) produzierten, von denen baulich-authentisch nur eine Anlage im heutigen Mosonmagyárovár erhalten ist. Dort nutzte man Plasma-Technologie zur Stickstoffgewinnung aus der Luft. Ein ähnlich komplexes Werk von Bauer für die Textilindustrie war die heute nur noch teil‑ weise erhaltene Textilfabrik der Berliner Aktiengesellschaft Deutsche Wollwaren-Manufaktur, erbaut in den Jahren 1923-1924, im niederschlesischen Grünberg. Eine typische Tätigkeit von Bauer in der Nachkriegszeit war die Neuorganisation von bestehenden Arealen und ihre Ergänzung um neue Bauten. Diese sollten die bisher auf mehrere Gebäude oder Betriebe verteilte Vorbereitungs- und Finalisierungsprozesse der Herstellung konzentrieren –Beispiele dafür sind authentisch erhaltene Etagenbauwerke in Brünn und Červený Kostelec. Teil dieser Modernisierungsinvestitionen waren auch Färbereibauten, in denen Bauer ab 1912 spezielle, zweifache Entnebelungsdächer aus Stahlbeton entwickelte.

Er fand neue Wege für die räumlichen Anordnung und vor allem die Art und Weise der Armierung von Eisenbetonkonstruktionen. Dabei entwickelte der das Konzept der steifen, selbsttragenden Bewehrung seines Lehrers Josef Melan und dessen älterem Schüler Friedrich Ignaz Emperger (1862–1942) weiter, der in den Jahren 1902–1908 die „Hohle Gußeisensäule mit einem Mantel aus umschnürtem Beton“ entwickelte. Diese nutzte praktisch erstmals 1913 eben Bauer bei der Konstruktion der Werke in Meidling bei Wien für die schwedische Firma Ericsson. In den zwanziger Jahren verwendete Bauer dann Bewehrungsskelette für Eisenbetonbauten, bei denen vorgefertigte Säulenkerne aus Gusseisen verbunden mit einer Betonschale mit einer steifen Stahlumwicklung die Hauptlast des Gebäudes tragen. Die Träger sind dann in eine montiert verbundene selbsttragende Verschalung aus perforierten Blechen (die wiederum als Versteifung dienen) gegossen.

Gleichzeitig widmete sich Bauer politischen und berufsständigen Aktivitäten: er unterstützte den Gedanken einer Vereinigung europäischer Staaten von Richard Coudenhove-Kalergi. 1925 gründete er den österreichischen Ableger der Fédération Internationale des Ingénieurs-Conseils – FIDIC und in den Jahren 1931 bis 1934 war er Präsident der Ingenieur-Kammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland. Bereits 1914 hielt Bauer in Wien die Vorlesung „Das Problem des Industriebaus“, die nicht nur eine Proklamation an den Beruf des Industriearchitekten war, sondern auch eine Reaktion auf die Kölner Ausstellung des Werkbundes und dessen Jahrbuch aus den vorhergehenden Jahren – und damit ein Beitrag zur Diskussion um die Beziehung von Ingenieurwesen und Architektur. Währendessen Peter Behrens und Walter Gropius theoretisch und vor allem praktisch an die Praxis der Veredelung des Ingenieurbaus durch den Architekten anknüpften, entwickelte Hermann Muthesius seine Verteidigung der schöpferischen Fähigkeiten von Ingenieuren weiter, die zur Kunst und Technik vereinen‑ den Sachlichen Architektur führte. Es ist verständlich, dass sich Bauer auf die Seite von Muthesius stellte – ebenso wie er empfand er den Architekten als vielseitig „im guten al‑ ten Sinne“ von Leonard da Vinci, versuchte die Einheit aller Baukunst durchzusetzen und verwarf die Stilarchitektur, jedoch nicht die klassischen formellen Regeln. Er setzte so die empirische Linie des in der Praxis verankerten, architektonischen Denkens fort. Mitchel Schwarzer verfolgt diese in der von Schinkel begonnenen deutschsprachigen Architekturtheorie sowie in der Tektonik-Theorie von Karl Bötticher, und bezeichnet diese als realistisch. Ein verwandtes Konzept formuliert gleichzeitig Kenneth Frampton, der Perrault an den Beginn seiner „Tectonic culture“ stellt. Wenn Bauer einen Industriebau als „Stein und Eisen gewordenes Betriebsdiagramm“ definiert, dann bedeuten „Stein und Eisen“ hier Verbindung mit dieser empirischen, tek‑ tonischen Tradition. Der Entwurf auf der Grundlage des „Betriebsdiagramms“ (routing diagram) sind die fortgeschrittenste, wissenschaftlich begründete Methode der Projektierung, die Bauer auf eine originelle Art und Weise entwickelte. Der Entwurfspraxis und den theoretischen Ansichten europäischer Projektierungsbüros von Industriebauten sollte in der Zukunft noch Aufmerksamkeit gewidmet werden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sie sich vor allem durch Methoden der Teamarbeit entwickelten. Bruno Bauer, der als Autor Entwürfe und Lösungen für den Betriebsablauf, die Konstruktion und Architektur seiner Industriebauten verantwortete, war allerdings offenbar der letzte Schaffende seiner Art.

Zusammenfassung übersetzt von Susanne Spurná

 

 

Dieses Buch ist eine Publikation des Projekts: Industriearchitektur. Das Industriedenkmal als technisch-architektonisches Werk und als Identität eines Ortes – gefördert im Rahmen des Programms Angewandte Forschung und Entwicklung nationaler und kultureller Identität des Kulturministeriums der Tschechischen Republik – NAKI II (DG16P02H001)

 

Lukáš Beran, Bruno Bauer und Industriearchitektur in den böhmischen Ländern, Prag 2016.

128 Seiten; tschechisch/englische und deutsche Zusammenfassung; 133 Abbildungen; ISBN 978-80-01-05992-0 / Autor Lukáš Beran / Ortsregister Irena Lehkoživová / Korrekturen Hana Hlušičková / Rezension Pavel Halík, Petr Urlich / Übersetzung Robin Cassling, Susanne Spurná / Grafik Jan Forejt / Satz Formall / Druck PBtisk / Das Forschungszentrum für das Industrielle Erbe 2016

 

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