Die Milchfabrik – eine Aufgabe für den Architekten: Rudolf Holý

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Industrie-Architektur der Tschechoslowakei innerhalb einiger weniger Jahre grundlegend verändert. Die Verstaatlichung der Betriebe und eine neuartige Auftragsvergabepraxis sowie das zusammengelegte Bau- und Projektierungswesen waren allerdings nicht die einzigen Schwierigkeiten mit denen die Architekten in dieser Zeit zurechtkommen mussten. Vor allem machte ihnen das mit der politischen Richtung des Regimes eng verbundene, starre System der sozialistischen Planwirtschaft zu schaffen, das die Vorbereitung von Investitionen, die Projektierung und häufig auch die eigentlichen Bauarbeiten erschwerte. Eine der Prioritäten für die Tschechoslowakei der Nachkriegszeit war der Umbau der Industrie. Dieser Prozess wurde zum Grundstein für die neu konzipierte Wirtschaft, wie es im Zweijahresplan (1947–1948) angedeutet und dann im ersten Fünfjahrplan (1949–1953) weiter entwickelt wurde. Auf diesen Industriebauboom in einem heute kaum vorstellbaren Ausmaß war der vereinheitlichte Projektierungsapparat allerdings nicht eingestellt. Daher war es notwendig, sofort die dafür nötige, spezialisierte Ausbildung an den Architekturfakultäten der jeweiligen Hochschulen abzusichern und eigenständige Institutionen für die Projektierung von Industriebauten als ein professionelles Umfeld für die komplexe Projektvorbereitung der einzelnen Fachgebiete zu gründen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei eine Theorieplattform, die von Otakar Štěpánek, Emil Hlaváček, Jiří Girsa, Emil Kovařík, Eduard Teschler, Miloš Vaněček, Jiří Vančura sowie Emanuel Podráský gebildet wurde. Diese Spezialisten definierten die Anforderungen an eine moderne Fabrik und gaben den Architekten innerhalb kurzer Zeit eine ganze Reihe von Fachbüchern und Studien zur Hand.

Die Jahre der organisatorischen Veränderungen und eine Atmosphäre des ständigen Suchens nach optimalen Möglichkeiten, Überarbeitungen und der Rückkehr schlugen sich nicht nur in der praktischen Arbeit sondern auch in der eigentlichen Architektur nieder. Lange Zeit konnte sich hier noch die starke funktionalistische Tradition der Zwischenkriegszeit halten, vor allem dank solcher Persönlichkeiten wie František Albert Libra, Oskar Oehler/Olár und die Architekten der nach der Stadt Zlín benannten Schule um Jiří Voženílek, Vladimír Kubečka, Zdeněk Plesník und Miroslav Drofa. Die Bemühungen um eine individuelle Herangehensweise an industrielle Architektur konnten jedoch unter diesen Umständen nicht von langer Dauer sein. Mehr noch als die Tendenzen des sozialistischen Realismus sowjetischen Typus, der sich in der Industriearchitektur fast nicht zeigte, waren es die Zwänge der Wirtschaftlichkeit, die markantere architektonische Entwürfe für einen gewissen Zeitraum in den Hintergrund rückten. Das Hauptthema der theoretischen Debatten wurde im Falle der Industriebauten die Typisierung. Deren Einführung in die bauliche Praxis ging jedoch nicht so vonstatten wie sich das die Theoretiker vorgestellt hatten. Dennoch gelang dank dieser Überlegungen, parallel zur globalen Entwicklung, eine Charakterisierung der grundlegenden Parameter eines Industriebetriebes (Universalität, Methode der Einteilung in Zonen und Sektionen, Monoblocks, fensterlose Gebäude, freistehende Apparaturen) auch unter den Bedingungen eines eher unflexiblen Bauwesens in der Tschechoslowakei.

Von Beginn an stand hinter diesen Veränderungen auch der Architekt Rudolf Holý (1930–2015), dem dieses Buch gewidmet ist. Holý studierte Architektur und Hochbauwesen an der Technischen Hochschule in Prag (Vysoká škola architektury a pozemního stavitelství, České vysoké učení technické), an der er Ateliers von František Čermák, Spezialist für Gesundheitsbauten, und des schon erwähnten Otakar Štěpánek absolvierte. Auch wenn Rudolf Holý sich eigentlich nach dem Studium Gesundheitsbauten widmen wollte, verband sich seine Karriere mit dem Industriebau. Nach drei Jahren, die er in der Projektierung für die Bergbauindustrie (Hutní projekt) verbrachte, wechselte er in den Betrieb Potravinoprojekt, ein Projektierungsbetrieb, der die Vorbereitung von Fabriken für die Lebensmittelindustrie absicherte – Zuckerwerke, Brauereien, Mälzereien, Brennereien, Konservenfabriken, Milchwerke, Fleischkombinate, Gefrieranlagen, Mühlen, Lager für Getreide und andere Lebensmittel. Innerhalb von wenigen Jahren wurde Rudolf Holý zu einem der besten Spezialisten für Industriearchitektur. Er konzentrierte sich vor allem auf moderne, Milch verarbeitende Betriebe – Großbetriebe mit ausgeklügelten Technologien, die auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre konzipiert waren. Obwohl Holý ebenso wie andere Architekten mit solchen Unzulänglichkeiten wie der Lieferbarkeit von Materialien und komplizierten Absprachen mit den Investoren zu kämpfen hatte, gelang es ihm auch unter diesen Bedingungen seine architektonischen Idee zu verteidigen und an den hohen Standard der Milchwerke anzuknüpfen, die in den zwanziger und insbesondere in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis zum Bauverbot in der Protektoratszeit errichtet wurden.

Die Entwicklung ebendieser Baukultur bringt uns das einleitende Kapitel „Der Weg zum industriellen Milchbetrieb“ näher. Eingehend verfolgt es den immer größeren Anteil von Architekten an der Planung von Milch verarbeitenden Betrieben, für die die Maschinenausstattung von größerer Bedeutung war als die Gestaltung des Gebäudes. Eine grundlegende Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Verband der Milchgenossenschaften (Svaz mlékařských družstev), der neben organisatorischen und betrieblichen Angelegenheiten auch die Projektierungen und den Bau neuer Milchwerke überwachte. Dank der Aktivitäten dieses Verbandes wurden Milchfabriken mit bereits nicht zu übersehenden architektonischen Ambitionen nach Projekten von hervorragenden Architekten, wie Josef Danda, Eduard Žáček, Josef Franců, Karl Ernstberger, Josef Lipš und weitere, gebaut. Es waren eben die Möglichkeiten des Funktionalismus, die auch Gebäude der Milch verarbeitenden Industrie mit einem künstlerischen Wert ausstatteten und
auch am Beginn der Nachkriegskonzeption der Großbetriebe stand.

Die erwähnten Texte von Jan Zikmund und Jakub Potůček ergänzt ein Artikel von Rudolf Holý „Zeitgenössische Tendenzen im Bau von Milchwerken“, der konkrete Probleme aufzeigt, die bei der Planung von Milchfabriken in jener Zeit von Architekten zu lösen waren. Das Gespräch mit Jiří Horský und die persönlichen Erinnerungen des Architekten Tomáš Šenberger bringen uns am Ende des Buches das Leben von Rudolf Holý nahe.

Wie in seinen einleitenden Bemerkungen Benjamin Fragner schreibt, öffnet die Publikation gleichzeitig das bisher wenig wahrgenommene Thema der Nachkriegsarchitektur im Rahmen des Projektes NAKI II Industriearchitektur – Das Industriedenkmal als technisch-architektonisches Werk und als Identität eines Ortes (Industriální architektura. Památka průmyslového dědictví jako technicko-architektonické dílo a jako identita místa). Die Forschung zu diesem Thema gipfelt in einer großen Monografie, die sich der Entwicklung der industriellen Nachkriegsarchitektur in einer komplexen Betrachtung von 1945 bis zur Schließung des Staatlichen Projektierungsbetriebes am Beginn der neunziger Jahre widmet.

Zusammenfassung übersetzt von Susanne Spurná

 

Jakub Potůček – Jan Zikmund et al., Die Milchfabrik – eine Aufgabe für den Architekten: Rudolf Holý, Prag 2016.

144 Seiten; tschechisch/englische und deutsche Zusammenfassung; 82 Abbildungen; ISBN 978-80-01-06041-4 / Autoren Jakub Potůček, Jan Zikmund / Mitautoren Benjamin Fragner, Jiří Horský, Tomáš Šenberger / Rezension Petr Kratochvíl, Petr Urlich / Korrekturen Hana Hlušičková / Übersetzung Robin Cassling, Susanne Spurná / Grafik Jan Forejt / Abbildungen Jiří Klíma / Produktion Gabriel Fragner / Schrift Pepi und Rudi / Papier Munken Lynx / Druck Formall / Das Forschungszentrum für das Industrielle Erbe 2016

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